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Schostakowitsch die 2te

Nach der 1. Symphonie, dem Geniestreich eines Jugendlichen, ist die 2. von Schostakowitsch die für mich gerad‘ interessanteste. Hier wird versucht Form und Inhalt übereinander zu legen, aber die Folien passen nicht mehr, das Ausschreiten der Moderne kann nicht eingeholt werden. Schostakowitsch ist Patriot, aber kein Mel Gibson, sondern ein junger Mann (von 21!) der wusste, wie die Form über den Inhalt hinaus zu dehnen ist. So entstanden ‚Freiflächen‘, die anders als mit Doktrinsoße gefüllt werden konnten. Aus musikalischem Urnebel (im ersten Teil) erhebt sich die Erzählung der ‚glorreichen‘ Revolution (zweiter Teil). Auszuloten wäre (mein Verständnis reicht dafür nicht), wie weit er musikalisch voraus schaut; mir scheint, dass diese Symphonie viel zu wenig gespielt wird.
Sicher brauchen Völker Narrative, die das kollektive Bewusstsein füttern, aber sie brauchen auch Kultur. So gelingt es Schostakowitsch Strukturen zu platzieren, die vielleicht mit Existenz, aber nichts mit der Wahrheit zu tun haben. Neben dem Jubelschrei ‚Oktober, Lenin‘ verweisen sie auf das allgemein Menschliche, Geworfene, auf die Möglichkeit sich als Individuum entscheiden zu können, zu müssen? Auf diesem Etikett steht Gefahr für das gerichtete Denken.
Die 3. ein tonales Schwanken und die 4. der große Wurf, der nicht gespielt werden durfte.
Ein Loblied auf Musik der Sowjetunion?, eben weil wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten sollten.

Eine Gattung stirbt

Einer der letzten Musiker, die noch Symphonien schreiben ist Erkki-Sven Tüür, geboren *1959 (9 Symphonien).

Ich gebe mal 12 Jahre nach oben und unten vom Geburtsjahr, dann bleiben in seiner Generation: Glenn Branka *1948 (10) (schon speziell), Kalevi Aho *49 (17), Poul Ruders *49 (5), Manfred Trojahn 49 (3) (eher zur Oper denn Symphonie) und Carl Vine *54 (8). Von den jungen Søren Nils Eichberg *73 (3), Lera Auerbach *73 (4) und vielleicht Kevin Puts *72 (4).
Die Vätergeneration von Henze *26 bis Sylvestrov *37 muss ich dabei schon weglassen.

Natürlich fehlt da ganz entscheidendes in der Entwicklung der Orchester-Musik, ich wollte mich hier nur auf die Gattung Symphonie beziehen. Symphonik als Weltentwurf, ein Gebäude mit verschiedenen Etagen, dem Opus Magnum, Freude, Forderung und Fluch zugleich.
Als Gattung verbraucht, frage ich mich, wie damit umgehen, wie neues Leben einhauchen?
Was macht Tüür anders, was traut er sich, wie bekommt er es in den Griff?
Müssen denn alle die Oper schreiben, bei Trojahn ist es mir besonders aufgefallen, dass er sich nach der 3ten aus seiner neoromantischen Symphonik raus gewunden hat, um ‚gehaltvoller‘ zu werden. Gesang in der Symphonie ist doch möglich (bei Mahler geht’s los, Beethovens 9te lasse ich mal außen vor).
Oper ist die Flucht ins Gesamtkunstwerk, in die Inszenierung, und man muss schon reichlich Schilder aufstellen, oder durchtragen, damit das Publikum nicht romantisch glotzt. So wird am Gesang geschraubt, dass meine Hörschwelle locker überwunden wird. Man füllt das Geheimnis mit Wort und Bild, um eine Welt zu bauen, die mit reinen musikalischen Mitteln nicht mehr möglich scheint, oder wenn, als Cluster, bis von der Deutung nichts mehr übrig bleibt, außer das Material an sich. Um hier zu lenken, reicht nicht der Gesang, muss es gleich das Welttheater sein?
(Ich glaube, dass Wagners Adaption von Faschismus schon ähnliche Gründe hatte, Medien die umfassen, haben für mich den Geruch des Lullens (besser Zullens?), heute auf die Spitze getrieben durch 3D-Brillen und Personal Suits, es fehlen nur noch die Schläuche.)

Anders Tüür. Das liegt nicht zuletzt an seiner populären Arbeit „Von 1979 bis 1984 war er Komponist, Flötist, Keyboarder und Sänger des von ihm gegründeten kammermusikalischen Rockensembles ‚In Spe‘, das schnell zu einer der beliebtesten Rockgruppen in Estland avancierte“ [Zitat Wikipedia], da werden Rock-Elemente in neuen Zusammenhang gestellt. Die ‚ernste‘ von ‚populärer‘ Musik geerdet, bekommt einen anderen Klang (Symphonie No. 5).

Dann gibt es vieles Anderes, was sich sicher richtig im Verlauf der Musikhistorie darstellt, aber nicht mehr für die Seele. Die Vätergeneration schrieb das Kapitel weiter, bis mit der Polystilistik (schon im Werk von Mahler und Ives angelegt) bei Schnittke der Höhepunkt gefunden war, alle anderen danach haben sich Nischen gesucht (ich mag Silvestrov). Und Glass muss ich zugestehen mit Minimalsprache und der Repetition (dem Pattern), das Serielle auf neue Weise verarbeitet zu haben (ich mag’s nicht, außer der 8en). Schon in Bruckners 8en liegt die Verheißung der Moderne. Hier hat Musik, wie dann auch noch bei Glass, zu einer homogenen Formsprache innerhalb der Gattung gefunden.
Bei Mahler und Ives wird das Fragment bewusstes Stil-Element, ist großer Wurf der Spätromantik und Übergang zugleich. Die Moderne mit Schönberg, Webern, Berg, Scrjabin, Stravinsky schrieb keine (kaum) Symphonien. Die Überwindung Donaueschingens (Boulez, Ligeti und Lachenmann, etc.) brachte Henze auf den Plan. Im Osten Europas, entwickelte sich die Symphonie weiter, da diese Form am ehesten mit dem staatl. Sozialistischen Realismus kompatibel war, die Künstler fanden aber schnell Wege die Doktrinen zu unterlaufen, so entstand eine Doppelbödigkeit, ein ‚als ob‘, ein um die Ecke schreiben und die wiedergefundene Religiosität. Von da aus scheint es mir nicht mehr weit bis zu Tüür, vielleicht ist dann nur noch der Mystizismus von Messiaen unterzubringen. Bei dessen Turangalîla-Symphonie (1946-48) habe ich ein Déjà-vu (welches für mich bis zu Ives zurückreicht).

Mit Aho und Ruders ist Tüür eine Einzelerscheinung, die mit einer kompositorischen Struktur arbeiten, welche formal ihr Recht verloren zu haben scheint.
Natürlich fühle ich mich dem verwandt, meine Ideen in der bildenden Kunst sind ähnlich. Einstmals fortschrittliche bürgerliche Strukturen in ein Konzept des Unvertrauten, jedoch scheinbar schon gehörten, gesehenen, zu überführen. Und wie ich mir bei Puts unsicher bin, ob das wirklich ins Schwarze trifft, gilt das für mich genauso.
Diese ständige Unsicherheit bringt einen wachsamen Zustand, der alles auf den Prüfstand stellt. Der bei jedem homogenen Werk skeptisch ist, ob es sich nicht einschleichen will, in die unteren Sphären des Bewusstseins, um von dort aus den Weg freizugeben für ein interesseloses ErLeben. Ich weiß, dass dies das Herz erfreut, aber auf keinen Fall den Geist schärft, und ich glaube einfach, dass es unsere Zeit erfordert, den Auftrag des Bildenden (in der Kunst) wörtlicher zu nehmen, als er eigentlich gemeint ist.

cesare

… vor 15 Minuten hatte ich Giulio Cesare von Händel
aufgelegt, jetzt läuft Anton Bruckners 7., Günter Wand (1980).
Hey, Giulio Cesare dauert 4 Stunden, warum der Wechsel? Normalerweise hüpfe ich nicht von CD zu CD, höre ‚durch‘, habe Wagner-Training und denke, dass sich erst in der Gesamtheit so etwas wie ‚Wahrheit‘ ahnen lässt. Bruckners 7. dauert 64 Minuten (gut, je nachdem wer’s spielt), Mahler hat das absolut übertroffen.
Ich schweife.
Nach der kleinen Ouvertüre der Chor, dann die wunderbare Arie des Cesar, Achilla, etc. Ich nehme das große Booklet (von 1991; da gab’s noch umfangreiche Information, die man sich heute aus dem ‚Second Screen‘ holen muss) zur Hand, fange an zu lesen.
Upps,
welch eine Unsäglichkeit des Dramas.
Könige, Königinnen und deren Adlaten streiten sich wie törichte Kinder um ihr Spielzeug, eben nur mit tödlichem Ausgang für einige der Probanden.
Sei’s drum.
Es interessiert mich nicht, nicht die Bohne!
Musik, die mich kurz zuvor noch berührte, stirbt ab, erstarrt, zerbricht an der Nichtswürdigkeit ihrer Erzählung. Das Erhabene am Inhalt zerbrochen, oder ist das Wort – obwohl weltbildend – schon immer Ausdruck der Hilflosigkeit?
Rembrandts beste Bilder handeln von Christus, den großen Erzählungen, oder ist es wie bei Rubens’
Gemäldezyklus für Maria de’ Medici im Louvre, eine Könnerschaft von Farbe und Form, wobei nicht ein inspirierender Funke geistiger Nahrung überspringen will?
Schönheit ergibt sich nur dem Wort, wenn es nicht getrennt vom Bild, sondern Bestandteil seiner Ästhetik ist. Es kann nicht aufgesetzt, oder zugefügt werden, es wird ‚in der Kunst sein‘ müssen, meint so den erweiterten Kunstbegriff und natürlich fällt mir sofort [wieder] Beuys ein; für mich einer der Wenigen, die das Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jhds repräsentieren, Polke nehme ich gleich mit.
Jetzt die 6. Symphonie von Erkki-Sven Tüür (2010).

Freiheit

… diese Aufnahme habe ich seit knapp zwei Jahren: die 4te Symphonie von Schumann, dirigiert von Sir Simon Rattle mit den Berliner Symphonikern. Öfters gehört – immer gut, nun wird sie immer besser!, in der ersten Fassung der eigentlich 2ten.
Vielleicht spielt die Aufnahmetechnik eine Rolle, große Transparenz bis in die hinteren Musikerplätze, aber all das habe ich gewusst. Fünfzig mal gehört, in etwa. Letztlich kann ich es nicht erklären, die CD klingt luftig, kein klassischer Zementblock, wie bei so vielen Aufnahmen. Schon die 2te und 3te des selben Zyklus‘ sind anders, haben nicht diese Dynamik, den Zugriff bis unten hinein.
Schumanns Romantik, von der Aufklärung geprägt, kommt sicher mehr vernunftbestimmt daher, ohne Verklärung, die ab 1865 in die Bürgerhäuser einzieht. Die Welt war auf die Füsse gestellt, ideal pragmatisch, mit einer Utopie, die über Grenzen hinausging.
Freiheit! mit einem Anklang von Schwermut.
Weitab für heute. Dennoch, das höre ich in diesem Stück, von Rattle freigelegt, der als Engländer (ein Begriff, den ich als Kind immer mit einem Werkzeug gleich setzte), hier meiner Unbedarftheit die Hand reicht und als Geburtshelfer die Zange ansetzt, neues Hörerleben in die Welt zu tragen. Jetzt die Symphonie von Holliger – knapp dran.
Musik, oder jede künstlerische Entäußerung, muss seine Grenzen verlassen, ist wie eine Form ohne den Zwang zum Begriff: Sie schwebt.

Musikalien

In der Musik erscheint der zeitliche Ablauf wie selbstverständlich. Vergangenes vom Jetzt ins Zukünftige projizieren ist das wunderbare Vergnügen des Hörens – keine andere Disziplin gibt das her. Und es ist (fast) egal, ob die Töne von der CD kommen, oder man in einem Konzertsaal sitzt. Musik wird geträumt?

Schnittkes ‚Concerto for Piano and Strings‘ ist neben Shostakovichs Piano ‚Concerto No. 1‘ für mich aufregendste Tonsetzung, natürlich Stravinskys ‚Petrushka‘ von 1911 (den ich jetzt erst höre), aber Charles Ives – Polystilistik ist schon bei Ives zu hören. Mahler. Schoen(Berg). Pettersson komponiert mir den Grund, eine Art schwärende Ursuppe, auf der kleine, instabile Inseln schwimmen. Die Jüngeren: Adams, Goldmann, Goebbels, Saariaho, Trojahn, Eichberg, Rijnvos, Putz, etc. und Philip Glass hat mit seiner 8ten doch noch ein Stück Musik geschrieben, das sich nicht in sich selbst erschöpft.

Gern würde ich eine Partitur lesend hören, fühle mich aber wie ein User am Computer, der nichts von seiner KI begreift und trotzdem FIFA zockt. Wenn wir spielen, meint es das selbstvergessene Tun, das Klavier wird gespielt, eine Symphonie geschrieben. Trifonov spielt Chopin, Ton wird Klang, in Ausführung das ideale Produkt der Notation wie das Licht (nur langsamer), Welle und Teilchen zugleich? Dem Bild ähnlicher als gedacht, das erst durch Licht erscheint, fließt vom Objekt ab, ist überall im Raum zugleich (relativ), als Erscheinung zuallererst Matrix einer Reflexion.

Zum Anfang zurück: In einem Livekonzert löst sich der Ton direkt von der schwingenden Saite, dieses Hören ist ein unmittelbarer Ereignisstrang in nur eine Richtung – keine Wiederholung möglich. So entsteht das Auratische des Moments aus der Aneinanderreihung, ähnlich einer Linie, die sich aus vielen Punkten zusammenfügt, Musik als das eingelöste Versprechen. Auf CD gebrannt, konserviert, kann ich ein Stück nach Belieben wiederholen, vergleichend hören (Mahlers 4te von Kubelik 1968, Karajan 1979, Inbal 1985, Hänchen 2000, Jansons 2010 und Pinnock von 2013) und Wahrhaftiges vermuten.