Eine Gattung stirbt

Einer der letzten Musiker, die noch Symphonien schreiben ist Erkki-Sven Tüür, geboren *1959 (9 Symphonien).

Ich gebe mal 12 Jahre nach oben und unten vom Geburtsjahr, dann bleiben in seiner Generation: Glenn Branka *1948 (10) (schon speziell), Kalevi Aho *49 (17), Poul Ruders *49 (5), Manfred Trojahn 49 (3) (eher zur Oper denn Symphonie) und Carl Vine *54 (8). Von den jungen Søren Nils Eichberg *73 (3), Lera Auerbach *73 (4) und vielleicht Kevin Puts *72 (4).
Die Vätergeneration von Henze *26 bis Sylvestrov *37 muss ich dabei schon weglassen.

Natürlich fehlt da ganz entscheidendes in der Entwicklung der Orchester-Musik, ich wollte mich hier nur auf die Gattung Symphonie beziehen. Symphonik als Weltentwurf, ein Gebäude mit verschiedenen Etagen, dem Opus Magnum, Freude, Forderung und Fluch zugleich.
Als Gattung verbraucht, frage ich mich, wie damit umgehen, wie neues Leben einhauchen?
Was macht Tüür anders, was traut er sich, wie bekommt er es in den Griff?
Müssen denn alle die Oper schreiben, bei Trojahn ist es mir besonders aufgefallen, dass er sich nach der 3ten aus seiner neoromantischen Symphonik raus gewunden hat, um ‚gehaltvoller‘ zu werden. Gesang in der Symphonie ist doch möglich (bei Mahler geht’s los, Beethovens 9te lasse ich mal außen vor).
Oper ist die Flucht ins Gesamtkunstwerk, in die Inszenierung, und man muss schon reichlich Schilder aufstellen, oder durchtragen, damit das Publikum nicht romantisch glotzt. So wird am Gesang geschraubt, dass meine Hörschwelle locker überwunden wird. Man füllt das Geheimnis mit Wort und Bild, um eine Welt zu bauen, die mit reinen musikalischen Mitteln nicht mehr möglich scheint, oder wenn, als Cluster, bis von der Deutung nichts mehr übrig bleibt, außer das Material an sich. Um hier zu lenken, reicht nicht der Gesang, muss es gleich das Welttheater sein?
(Ich glaube, dass Wagners Adaption von Faschismus schon ähnliche Gründe hatte, Medien die umfassen, haben für mich den Geruch des Lullens (besser Zullens?), heute auf die Spitze getrieben durch 3D-Brillen und Personal Suits, es fehlen nur noch die Schläuche.)

Anders Tüür. Das liegt nicht zuletzt an seiner populären Arbeit „Von 1979 bis 1984 war er Komponist, Flötist, Keyboarder und Sänger des von ihm gegründeten kammermusikalischen Rockensembles ‚In Spe‘, das schnell zu einer der beliebtesten Rockgruppen in Estland avancierte“ [Zitat Wikipedia], da werden Rock-Elemente in neuen Zusammenhang gestellt. Die ‚ernste‘ von ‚populärer‘ Musik geerdet, bekommt einen anderen Klang (Symphonie No. 5).

Dann gibt es vieles Anderes, was sich sicher richtig im Verlauf der Musikhistorie darstellt, aber nicht mehr für die Seele. Die Vätergeneration schrieb das Kapitel weiter, bis mit der Polystilistik (schon im Werk von Mahler und Ives angelegt) bei Schnittke der Höhepunkt gefunden war, alle anderen danach haben sich Nischen gesucht (ich mag Silvestrov). Und Glass muss ich zugestehen mit Minimalsprache und der Repetition (dem Pattern), das Serielle auf neue Weise verarbeitet zu haben (ich mag’s nicht, außer der 8en). Schon in Bruckners 8en liegt die Verheißung der Moderne. Hier hat Musik, wie dann auch noch bei Glass, zu einer homogenen Formsprache innerhalb der Gattung gefunden.
Bei Mahler und Ives wird das Fragment bewusstes Stil-Element, ist großer Wurf der Spätromantik und Übergang zugleich. Die Moderne mit Schönberg, Webern, Berg, Scrjabin, Stravinsky schrieb keine (kaum) Symphonien. Die Überwindung Donaueschingens (Boulez, Ligeti und Lachenmann, etc.) brachte Henze auf den Plan. Im Osten Europas, entwickelte sich die Symphonie weiter, da diese Form am ehesten mit dem staatl. Sozialistischen Realismus kompatibel war, die Künstler fanden aber schnell Wege die Doktrinen zu unterlaufen, so entstand eine Doppelbödigkeit, ein ‚als ob‘, ein um die Ecke schreiben und die wiedergefundene Religiosität. Von da aus scheint es mir nicht mehr weit bis zu Tüür, vielleicht ist dann nur noch der Mystizismus von Messiaen unterzubringen. Bei dessen Turangalîla-Symphonie (1946-48) habe ich ein Déjà-vu (welches für mich bis zu Ives zurückreicht).

Mit Aho und Ruders ist Tüür eine Einzelerscheinung, die mit einer kompositorischen Struktur arbeiten, welche formal ihr Recht verloren zu haben scheint.
Natürlich fühle ich mich dem verwandt, meine Ideen in der bildenden Kunst sind ähnlich. Einstmals fortschrittliche bürgerliche Strukturen in ein Konzept des Unvertrauten, jedoch scheinbar schon gehörten, gesehenen, zu überführen. Und wie ich mir bei Puts unsicher bin, ob das wirklich ins Schwarze trifft, gilt das für mich genauso.
Diese ständige Unsicherheit bringt einen wachsamen Zustand, der alles auf den Prüfstand stellt. Der bei jedem homogenen Werk skeptisch ist, ob es sich nicht einschleichen will, in die unteren Sphären des Bewusstseins, um von dort aus den Weg freizugeben für ein interesseloses ErLeben. Ich weiß, dass dies das Herz erfreut, aber auf keinen Fall den Geist schärft, und ich glaube einfach, dass es unsere Zeit erfordert, den Auftrag des Bildenden (in der Kunst) wörtlicher zu nehmen, als er eigentlich gemeint ist.